Das Schicksal des bekanntesten Gedichts von Hermann Claudius
An der wechselhaften Geschichte eines Liedes kann man vieles lernen: wie sich ein Gedicht von seinem Dichter emanzipiert, wie sich ein harmloses Wanderlied in ein politisches Kampflied verwandelt, wie Literatur für politische Zwecke benutzt wird, wie sich völlig unterschiedliche gesellschaftliche Zustände in einem Gedicht wiederfinden, kurz: welch erstaunliche Wirkung Literatur haben kann.
Mit uns zieht die neue Zeit. 1939 analysiert Bertolt Brecht die Ambivalenz des Verses, dessen „unerhörte Verführungskraft“. „Keine andere Zeile eines Liedes begeisterte die Arbeiter um die Jahrhundertwende stärker als die Zeile.“ Sie gibt der „Phantasie Raum“, gerade die Unbestimmtheit „hat lange ihre Stärke ausgemacht“. Diese Kraft ist aber zugleich ihre Schwäche, denn sie kann – was Brecht konstatieren muss – „von den Verführern der Massen ausgenutzt“ werden. Dass das Neue der Zeit offenbar beliebig gefüllt werden kann, belegt für Brecht die „Vagheit und Leere“ des Verses, letztlich ist es nichts als „Gerede“, eine Variable für jeden Zweck. Die Geschichte des Liedes von Hermann Claudius bestätigt seine Ambivalenz: Es ist zugleich Ausdruck eines Lebensgefühls und Projektionsfläche für Ideologie. (Brecht, Bertolt: Zu „Leben des Galilei“. In: Gesammelte Werke. Band VII. Schriften I. Zum Theater. Frankfurt a.M. 1967. S. 1103f)
Ein Wanderlied
Während oder nach einer Heidefahrt mit einer internationalen Jugendgruppe („Falken“ oder „Wanderfalken“) im Sommer 1913 dichtet Hermann Claudius das Wanderlied „Wann wir schreiten Seit‘ an Seit'“. Durch die Begegnung mit einer jungen Österreicherin motiviert, war es ursprünglich als Liebeslied mit der Anfangsstrophe „Mann und Weib“ gedacht.
Im August 1913 schreibt Claudius, dass er sich ein Volkslied für seine Zeit erhofft, da ein starker demokratischer Zug das öffentliche Leben durchwehe. (In: Mitteilungen aus dem Quickborn. 6.J. Nr. 4. August 1913. S. 172) Aus dem Liebeslied eines Wanderers wird unversehens ein politisches Arbeiterlied. Der Vers „Mit uns zieht die neue Zeit“ könnte sich an der Wochenschrift der SPD, „Die Neue Zeit“, orientiert haben, die seit 1883 erscheint.
In der Monatsbeilage des Hamburger Echo, „Die arbeitende Jugend“, wird der Text im Juni 1914 erstmals veröffentlicht.
Der Komponist Michael Englert nennt in einem Brief vom 24.3.1953 an Wilhelm Katthage als erste öffentliche Aufführung eine Protestkundgebung der SPD gegen die Fortsetzung des Krieges im Frühjahr 1915. Eine andere Quelle bestimmt die Gründungsversammlung der „Freie Jugend Hamburg-Altona“ im März 1916 als Ort der Uraufführung. Diese Gruppierung hatte sich gebildet, nachdem die SPD ihren Jugendbund nach Protesten gegen den Krieg und gegen eine militärische Erziehung der Jugend aufgelöst hatte. Geleitet vom Komponisten Englert führt der „Hamburger Arbeiterjugendchor“ das schon bekannte Lied auf (vgl. Lammel, Inge: Arbeitermusikkultur in Deutschland 1844-1945. Bilder und Dokumente. Leipzig 1984: VEB Dt. Verlag für Musik. S.58-59, 126, 127). Claudius selbst nennt irrigerweise im Vorwort zu „Vörsmack“ das Jahr 1916 als Entstehungszeit des Liedes, meint wahrscheinlich jedoch die Melodie. Im Übrigen wurde dieses Vorwort mit allen Daten von Paul Wriede verfasst.
1920 erscheint das „Hamburger Liederblatt I für dreistimmigen gemischten Jugendchor“, herausgegeben vom Arbeiterjugendbund Groß-Hamburg. Es beginnt mit dem Lied „Wann wir schreiten“. In veränderter und erweiterter Form erreicht es bis 1929 eine Auflage von 500Tausend.
Ein Lied der sozialistischen Jugend
Den endgültigen Durchbruch zum Pop-Song der 20er schafft das Lied auf dem ersten Reichsjugendtag der Arbeiterjugend. Vom 28. bis 30. August 1920 treffen sich ca. 2000 Jugendliche aus ganz Deutschland (bis auf Bayern). Das Treffen, das zwei Jahre später zur Gründung der „Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ)“ führt, beschwört pathetisch den „Geist von Weimar“ und stellt sich ostentativ in die Bildungstradition eines Goethe und Schiller
Verantwortlich für den Weimar-Mythos ist vor allem das sogenannte ‚Weimar-Buch’, ein unmittelbar nach dem Treffen von dem Mitveranstalter Emil Reinhard Müller herausgegebener Bericht, der in Sprache und Diktion den ‚Geist von Weimar‘ hymnisch feiert: „In aller Herzen, die dabei waren, heiligen” die Tage in Weimar nach „wie ein Märchen, und waren doch Wirklichkeit” (Müller, 5).
(Müller, E.R. Das Weimar der arbeitenden Jugend. Niederschriften und Bilder vom ersten Reichjugendtag der Arbeiterjugend vom 28.-30. August 1920 in Weimar. Berlin 1920)
Eine sofort nach dem Treffen einsetzende pathetische, mythische Aufladung des Treffens macht es zu einem bahnbrechenden, epochalen Ereignis, zu einem ‚Woodstock‘ der Arbeiterjugend. Jugendliche haben „Blumen im Haar, Lieder auf den Lippen” (Müller, 5) und tanzen zu „den rhythmischen Klängen einer Fiedel” (Müller, 96). Im „natürlichen Tanz aus Freude und Lust” (Müller, 95) demonstrieren sie „so viel Frohheit, Glück und Reinheit”, denn ihre „Kultur gedeiht nur in vollster Freiheit” (Müller, 48).
Eine Postkarte zum Event postet die Botschaft: Ich war dabei!
Die Karte nach Hamburg-Wandsbek schwärmt vom Festival mit gesamtdeutscher Jugend:
„Weimar, 28.8.20
Bin gesund und munter
nach langer Fahrt hier gelandet.
Welch Dialekte und welch
Massen. Werde dann in der
nächsten Woche weiterfahren.
Eine herrliche Gegend. Es grüßt
Louis Garben Hans Lüttermann
Albert Lobermann“
Fotos und Postkarte mit freundlicher Genehmigung des Archivs der Arbeiterjugendbewegung, Oer-Erkenschwick
Dafür dass „der Rhythmus eines großen Erlebens” durch die Menschen „bebt” (Müller, 7), sorgt vor allem ein Lied, das von Weimar aus eine steile und erstaunliche Karriere angetreten hat. Es ist das von Michael Englert vertonte Gedicht von Hermann Claudius mit dem Anfangsvers „Wann wir schreiten Seit’ an Seit’”, das als das „Lied von Weimar” (Müller, 72) die mediale Basis für das beschworene Gemeinschaftsgefühl bildet: „Es röten sich schon die Hügel, es glühen die Wipfel. Wir schreiten ins heilige Land der Freude und der Freiheit hinein.” (Müller, 9)
Der Reichsjugendtag in Weimar war die „Geburtsstunde der SAJ” (Schley, 44) und führte zu einer „gewaltigen organisatorischen Expansion der sozialistischen Arbeiter-Jugend (SAJ)” (Lorenz). Schon nach einem Jahr verdoppelte sich ihre Mitgliederzahl auf 75.000.
In der Zeitschrift „Arbeiter-Jugend“ (Berlin) lassen sich zahlreiche Hinweise auf das Lied und seine Bedeutung für die sozialistische Jugendbewegung finden.
„Wer diesen Jugendzug gesehen hat, wer ihn mit offenen, unverblendeten Augen ansah, der weiß seitdem auch, mit wieviel Recht das von der Arbeiterjugend am meisten gesungene Lied den Kehrreim enthält: ‚Mit uns zieht die neue Zeit …‘ Hier wächst in der Tat eine neue Zeit herauf, ein Geschlecht von Menschen, das uns hoffen läßt: Alle Nöte der Zeit werden überwunden, wenn wir nur fest an diese Jugend glauben, ihr Wachstum fördern und keine Mühe scheuen, die es für dieses Wachtum aufzuwenden gilt. Was für ein prächtiger Schlag von Menschen!“
(Arbeiterjugend September 1923, S. 152, vgl. 1920 12.J S. 62, 194, 209, 249, 251, 262, 263. 1921 13.J S. 167, 415. 1922 14.J S. 180, 287. 1923 15.J S. 152. 1929 20.J S. 126, 152, 153)
So wird hier auch deutlich, dass die vierte Strophe emanzipatorisch verstanden wurde – ein Grund, weshalb sie in der nationalsozialistischen Rezeption gestrichen wurde.
„In unseren Reihen stehen sich die Geschlechter nicht mehr gegenüber als Gegensätze: hier Herr, hier Knecht, sondern sie fühlen sich als eine höhere Einheit. In unseren Reihen schon wird wahr, was der Dichter Hermann Claudius in die tiefsinnigen Worte faßt: ‚Mann und Weib und Weib und Mann/ Sind nicht Wasser mehr und Feuer./ Um die Leiber legt ein neuer/ Frieden sich, wir blicken freier, / Mann und Weib, uns fürder an’“.
(Paul Schirrmeister: Die Emanzipation der Frau und die Aufgabe der proletarischen Jugendbewegung. Arbeiter-Jugend, Juni 1922, S. 180)
Ab 1920 begleitet das Lied nicht nur die wandernde Jugend, sondern ebenso die religiösen Riten der Sozialisten und wird Bestandteil der Sonnenwendfeier.
(vgl. Thieme, Alfred: Sonnenwendfeier der Hamburger Arbeiterjugend. In: Hamburger Echo Nr.287/A vom 23.6.1920)
Gegen Ende der 20er Jahre müssen schon Eigentumsrechte auf das Lied eingeklagt werden, da die neue Zeit von allen möglichen Gruppen für sich reklamiert wurde.
Zum Reichjugendtag in Dortmund 1928:
„’Mit uns zieht die neue Zeit‘. – Unser Bekenntnis- und Verkündigungslied hat vor acht Jahren von Weimar an seinen Siegeslauf durch unsere Bewegung angetreten. Auch die bürgerliche Jugend hat diese Lied übernommen, und es ist fast zum Hauptlied der deutschen Jugendbewegung geworden. Wenn wir es in Dortmund aus unseren Reihen wieder und wieder erschallen lassen, soll das bedeuten, daß, wer sich zur ’neuen Zeit‘ bekennt, sich zum Sozialismus bekennen muß.“
(Arbeiterjugend Juli 1928. S. 153)
Der CVJM argumentiert gegen die Popularität des ’sozialistischen‘ Liedes auch in seinen Reihen. Die Arbeiterjugend zitiert den CVJM:
„Das arg mißhandelte Lied ‚Wir!‘ (Wann wir schreiten Seit‘ an Seite) wird in unseren Reihen verpönt und verboten. Jungens! Wehrt euch gegen jede Geschmacksverirrung, auch im Liede! Das Trutzlied antichristlicher Verbände komme nicht auf unsere Lippen! Darum: ‚Weg damit!’“
(Arbeiterjugend Juni 1926. S. 126)
Zur neuen Zeit! Wann wir schreiten –
Linolschnitt von Fritz Behnke.
In: Hamburger Echo.
Die Neue Welt. Nr.4 S.15
vom 19.02.1921
„Seit an Seit“. Volksliederbuch für die
dt. Jugend. Ausgabe des Jugend-Bundes
im Gewerkschaftsbunde der Angestellten.
Jena 19242: Eugen Diederichs
Das Lied ist schon soweit etabliert,
dass ein Hinweis auf den Autor
Hermann Claudius und sein Lied
unnötig erscheint.
„Wann wir schreiten Seit an Seit“.
Sammlung von Aufsätzen über Wandern und Jugendherbergen.
Hilchenbach: Reichsverband
für deutsche Jugendherbergen 1931/32
„Hamburger Jugendlieder“ Hrsg. Max Laudan. Hamburg 1924
„Selten ist ein Lied so schnell Gemeingut der gesamten Jugend geworden, wie dieses. Unser Hamburger Dichter Herm. Claudius schribe die schönen Worte.“
Die Anweisung zum Gesangsstil lautet „Markig“.
Ein Kampflied der Nationalsozialisten
In den 30er-Jahren gerät Claudius‘ Lied in den Sog des Nationalsozialismus‘. Eine weitere Metamorphose steht bevor. Das harmlose Dokument eines Flirts verwandelt sich zunächst in die Hymne einer sozialistischen Jugend, bevor es die Nazis besetzen und für ihre Zwecken entfremden. „Wann wir schreiten“ erleidet so das gleiche Schicksal wie zahlreiche andere Lieder der Jugend- und Wanderbewegung. Die Nazis werben mit bekannten Liedern um die Jugend und deuten sie in ihrem Sinne. Ihre Liederbücher sehen aus wie all die anderen Hefte für die „wanderfrohe Jugend“. Erst eine genaue Lektüre offenbart Überraschendes.
Der Claudius-Text wird auf zwei oder drei Strophen verkürzt, vor allem fällt die emanzipatorische fünfte Strophe weg. Neue, ideologisch eindeutige Strophen, kommen hinzu.
„3. Hakenkreuz und Schwarzweißrot laßt voran im Winde wehen, bis wir alle wieder sehen Deutschland blühend auferstehen in der Freiheit Morgenrot. 4. Unsre Herzen sind aus Stahl, unser Wille ist aus Eisen, wenn der Welt den Mann wir weisen, den wir als den Führer preisen aus der Knechtschaft Not und Qual. 5. Hitler führt uns heldengleich unter sieggewohnten Fahnen, Kampfbereit wie unsre Ahnen wandeln wir auf kühnen Bahnen. Mit uns zieht das dritte Reich!“
Aus dem Aufbruch in eine neue Zeit, die Claudius beschwört, ist zwanzig Jahre später das Dritte Reich geworden. So ist es keine Problem, dass eine ehemals linke Hymne im Liederbuch direkt neben dem Horst-Wessel-Lied abgedruckt werden kann. Immerhin gibt es den freundlichen Hinweis, dass Hermann Claudius der Autor der ersten beiden Strophen ist.
Ein katholischer Kampf
Auch andere Gruppierungen okkupieren Claudius‘ Lied für ihre Zwecke. So gibt es eine christliche Variante des Kampfes, für den man schreitet, vorsichtshalber mit einer neuen Melodie versehen, um durchaus mögliche Verwechselungen zu vermeiden. Das Liederbuch der katholischen Kaufmannsjugend Blaue Fahnen schenkt dem Gedicht eine weitere Strophe:
Heilgem Kampf sind wir geweiht,
Gott verbrennt in Zornesfeuern
eine Welt, sie zu erneuern,
wollen kraftvoll wir beteuern!
Christus, Herr der neuen Zeit,
Christus, Herr der neuen Zeit.
Re-entry als Hit der Wanderer und Sozialisten
An dem Lied geht seine Nazi-kontaminierte Epoche schadlos vorbei. Aufgrund seiner sozialistischen Jugend ist es rasch entnazifiziert, nicht aber der Autor. Bis heute klebt das Nazi-Etikett auf Hermann Claudius. Zwar ist er für sein Image nicht ganz unschuldig, aber dafür dass die Nationalsozialisten seine Texte hemmungslos ideologisch ausschlachten, wird nach dem Krieg der Autor selbst verantwortlich gemacht. Plötzlich rückt das Lied wieder näher an den Dichter, obwohl es sich doch schon lange emanzipiert hatte.
Wann wir schreiten in der DDR
Analog zur politischen Lage erlangt unser Lied ein deutsch-deutsches Schicksal. In der DDR erhält es seinen ehemaligen Status als sozialistisches Kampflied zurück. Es steht wiederum für die üblichen sozialistischen Werte: Aufbruch, Fortschritt, Kampf, Jugend, Gemeinschaft. Wie die jugendlichen Wandervögel 1914, die SAJ 1924, die HJ 1934, so singt die FDJ 1954 „Wann wir schreiten Seit‘ an Seit'“.
Obwohl Claudius zu den Literaten zähle, die „in ihrer politischen Haltung nicht konsequent die Interessen des revolutionären Proletariats vertreten haben“ (S. 103), wird er in das Lexikon sozialistischer Literatur, herausgegeben 1963 vom VEB Verlag Sprache und Literatur, aufgenommen. Die Reihe Lieder im Kampf geboren nimmt die beiden Gedichte Wir sind jung, die Welt offen und Wann wir schreiten auf.
Dass dieses Lied den Sound der frühen DDR symbolisiert, sieht man vielleicht darin, dass die Melodie zur Zeile „mit uns zieht die neue Zeit“ als Pausenzeichen im Rundfunk dient: Selbst eine Pause hat die Utopie der neuen Zeit im Ohr.
Im Schulbuch für den Musikunterricht in den Klassen 7 und 8 wird das Lied in das Kapitel „Lieder als Waffe im internationalen Kampf der Arbeiterklasse“ einsortiert. Man spart sich die vierte und fünfte Strophe. Das Wandern sowie die Liebe gleichberechtigter Geschlechter tragen nur wenig zum Klassenkampf bei.
Die Schüler erhalten korrekte Angaben zur Entstehung des Liedes. Sie sollen sehen, wie sich die „Entwicklung der Deutschen Demokratischen Republik“ in Jugendliedern widerspiegelt. Didaktisch anschaulich erfahren die Schüler im gemeinsamen Singen „den jugendlichen Schwung beim Aufbau der Arbeiter-und-Bauern-Macht“ (Musik. Lehrbuch für die Klassen 7 und 8. Berlin 1973. S. 90).
Der staatseigene Musikverlag ‚Eterna‘ unterstützt den realen Sozialismus durch zahlreiche Schallplatten, die zur Stabilisierung der richtigen Haltung beitragen. Die Frage eines Westdeutschen mag erlaubt sein: Wer hat sich sowas angehört?
Berliner Gesangsverein „Typographia“, 1927/28
Kammerchor der Gerhart-Hauptmann-Oberschule Wernigerode, 1973
Beide Versionen beschränken sich auf die Strophen eins bis drei. Nur die sind relevant für die Weltrevolution oder die sozialistische Arbeiter- und Bauern-Romantik (Hammerschlag Saatengrün). Die Strophen vier und fünf mit ihren singenden Wanderern und gleichberechtigten Liebespaaren tragen offenbar nicht viel zur Kampfesmoral bei.
Wann wir schreiten in der BRD
In Westdeutschland findet das Lied nach dem Krieg rasch wieder seinen Ort in Liederbüchern für Wanderer, wird aber auch von der SPD rehabilitiert. Bis heute endet jeder Parteitag, indem alle Genossen Claudius‘ Lied intonieren.
1960 beginnt die neue Zeit jedoch nicht nach dem Parteitag, sondern schon mit ihm. Der Parteitag in Hannover beginnt mit dem Lied.
(In: Ruhr-Nachrichten vom 26./27.11.1960)
Zwischen 1998 und 2003 pausierten die singenden Sozialdemokraten: Sie schritten nicht mehr, sondern regierten. Auf dem Parteitag in Bochum erinnerten sie sich aber wieder ihrer Tradition, jedoch mit textlichen Schwierigkeiten, wenn sich die Zeit in einen Geist verwandelt.
„Der Parteitag von Bochum ist der erste seit Jahren, der wieder mit einem gemeinsam gesungenen Lied beschlossen wurde. 'Wann wir schreiten Seit' an Seit'' heißt das Arbeiterlied, das Hermann Claudius 1915 dichtete. 'Wann wir schreiten Seit' an Seit' und die alten Lieder singen, und die Wälder widerklingen, fühlen wir, es muss gelingen', heißt es darin. 'Mit uns zieht ein neuer Geist, mit uns zieht ein neuer Geist'. Ein Lied kann eine Krücke sein, hat wohl jemand im Willy Brandt-Haus gedacht und sich an die alte Tradition des gemeinschaftlichen Singens erinnert. Vielleicht hilft's ja der Partei, sich in diesen schweren Zeiten zu orientieren und zur Einheit zu finden, die Querelen hinten anzustellen und Solidarität zu üben.“ (Yassin Musharbash, Spiegel 19.11.2003)
Hier die Band Singende Sozis mit ihrem größten Hit, live in Berlin 2011:
Einige Sozialdemokraten haben das Lied in ihr Herz geschlossen. Heinz Kühn, der ehemalige Ministerpräsident von NRW, hat sich zu seiner Trauerfeier 1992 Wann wir schreiten gewünscht. Für den Großen Zapfenstreich zur Verabschiedung des Verteidigungsministers wünscht sich Peter Struck im Jahr 2005 ebenso Claudius‘ Lied.
Einige Jusos können dieser Herzensangelegenheit nicht folgen. Auf dem Juso-Bundeskongress vom 30.11. bis 2.12.2018 reicht die Gruppierung „Hessen-Nord“ einen Antrag ein:
„Das Lied ‚Wir schreiten Seit an Seit‘ von Hermann Claudius wird bei keiner unserer Veranstaltungen mehr gesungen. Es wird nach einer Alternative gesucht.“
Der Antrag wird nicht etwa – was man vielleicht noch verstehen könnte – mit der obsoleten Sprache und Haltung des über 100 Jahre alten Liedes begründet, sondern die nord-hessischen Jungsozialisten haben den Autor des Liedes als Nazi entlarvt. Den Antrag im Wortlaut nebst einigen richtigstellenden Kommentaren finden Sie am Ende dieser Seite. Aber sogar das „SPD-Geschichtsforum“ lässt sich von dieser windigen und haltlosen Argumentation überzeugen. Man hätte gehofft, dass ein Geschichtsforum sich an historische Fakten hält, rät aber zu einem verzweifelten Schritt im Bedürfnis einer Modernisierung:
Der „Vorwärts“ berichtet im Dezember 2021 knapp von dem Beschluss der Parteispitze, das Lied „Wann wir schreiten Seit‘ an Seit‘“ nicht mehr am Ende eines Parteitages zu singen. Ziemlich geräuschlos geht damit eine über 60 Jahre gepflegte SPD-Tradition zuende.
Im Herbst 1989 veranstaltet die Stadt Duisburg ein Festival zu „Arbeiteralltag, Arbeiterbewegung, Arbeiterkultur“. Zwischen September und November gibt es Ausstellungen, Vorträge, Symposien, Filme, Konzerte, Theater, Exkursionen. Claudius‘ Lied ist dabei titelgebend, spielt aber auch inhaltlich eine Rolle. Am 2.9. liest Gisela Claudius „aus den Werken des Dichters Hermann Claudius“, mit musikalischer Gestaltung. Die Duisburger Naturfreunde laden unter dem Titel „Mit uns zieht die neue Zeit“ am 10.9. zu einer Wanderung durch den Duisburger Wald ein (kostenfrei)
Das linke Merchandising überlebt auch die DDR und setzt sich im wiedervereinten Deutschland fort. So wird 2004 eine CD mit Darbietungen von FDJ-Jugendfestivals der 60er bis 80er Jahre herausgegeben. Wann wir schreiten Seit an Seit gibt der CD ihren Titel. Dabei sind natürlich die üblichen Verdächtigen aus dem sozialisitischen Liedgut (z.B. Brüder zur Sonne, Der Rote Wedding, Thälmann-Kolonne, We shall overcome und selbstverständlich Die Internationale).
Mit einem wohl witzig gemeinten Titel aus der Wortspielhölle muss das Lied herhalten, um ein Beispiel für die permanente Streitkultur unter Sozialisten zu kommentieren. Am 25.5.2013 berichtet die Südeutsche Zeitung von einen Disput zwischen der SPD und der Sozialistischen Internationale.
Auch die Bundeswehr schreitet Seit‘ an Seit‘. Mit dem Lied beginnt das Kapitel „Fahrtenlieder“ im „Liederbuch der Bundeswehr“ bis 1991. Die Lieder seien „während der Zeit des 3. Reiches wenig gesungen“ und damit für eine demokratische Armee legitmiert. Dennoch verwendet auch die Bundeswehr die von den Nazis favorisierte Vertonung von Armin Knab, nach der man besser marschieren kann, und streicht die fünfte, emanzipatorische Strophe.
Am 25.1.2009 erklärt die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Claudius Vers zur Formel der Menschwerdung: Wann wir schreiten Seit‘ an Seit‘ meint nämlich den evolutionären Sprung zum aufrechten Gang.
Die Band Egolog aus Magdeburg veröffentlicht 2014 eine eigene Version des Liedes auf ihrer Platte „Hammerschlag“. Bandmitglied Tom schreibt uns dazu:
"Wir haben das Lied 2014 im Rahmen einer kleinen Veröffentlichung mit neu interpretierten Arbeiter- und Protestliedern aufgenommen und dazu ein Video gedreht. Motivation war, einen Beitrag dazu zu leisten, dass solches Liedgut weitergetragen und auch zeitgemäß weiterentwickelt wird. Ich selbst bin Sozialdemokrat und komme daher regelmäßig mit dem Lied in Kontakt, wenn wir es zum Abschluss eines jeden Parteitages singen. Irgendwann kam dann auch das Interesse für andere Lieder und das Genre im Allgemeinen. Die Mitstreiter in der Band teilten damals glücklicherweise das Interesse und so kam es zu den Aufnahmen."
Was ist nur aus der SPD geworden?!
Die Älteren werden sich erinnern: Die SPD (Sozialdemokratische Partei Deutschlands) war mal eine linke Partei für Arbeiter und Intellektuelle, eine politische Partei, die eine Heimat für kluge Köpfe bot. Hier konnte man debattieren: argumentativ, begründet, akademisch substanziell, theoriegesichert.
Arme SPD! Mittlerweile basieren ihre Anträge auf Halbwissen, auf kolportiere Vorurteile sowie einer Meinung, die den Zeitgeist auf ihrer Seite wähnt.
Schade, dass auch die Tradition, auf die die SPD nach wie vor setzt, in diesem Sog versinkt. Denn aufgrund dieses eklatant fehlerhaften Antrags beschießt die Parteispitze im Dezember 2021, das Lied zum Abschluss des Parteitages nicht mehr zu singen. Das SPD-Geschichtsforum empfiehlt, das Lied „am Ende des Parteitags nicht zu singen, und zwar so lange, bis ein Lied gefunden werden kann, das keine problematisch Vorgeschichte besitzt und das außerdem das heutige Lebensgefühl von Sozialdemokrat*innen und die Grundhaltung der SPD im 21. Jahrhundert trifft.“ (https://www.vorwaerts.de/artikel/parteitag-spd-schreiten-mehr-singt)