Lyriker, Autor, Urenkel von Matthias Claudius
Hermann Claudius repräsentiert durch sein langes Leben wie kaum ein anderer Autor die Wirren des 20. Jahrhunderts. Geboren im Kaiserreich 1878 erlebte er als Jugendlicher den Aufbruch der Moderne, war Soldat im Ersten Weltkrieg, stand im Sog der politischen Umbrüche der Weimarer Republik, musste sich gegenüber dem Nationalsozialismus positionieren, stand in der Bundesrepublik zwischen seinem Nazi-Image und einer Anerkennung als Lyriker, bis er als 102-Jähriger in seiner alten schleswig-holsteinischen Heimat 1980 starb.
Claudius hat seit 1912 zahlreiche Lyrik-Bände sowie einige Prosa-Texte veröffentlicht. Darüber hinaus war er als Herausgeber tätig.
Seinen Platz in der deutschen Literaturgeschichte findet er insbesondere durch seine plattdeutschen Gedichte. Einmalig sind seine niederdeutschen Großstadtgedichte zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Für seine Verdienste um den Erhalt des Niederdeutschen ist Hermann Claudius mit Literaturpreisen geehrt worden.
Einige seiner Gedichte sind als Lieder Volksgut geworden, zumeist ohne sie mit seinem Namen in Verbindung zu bringen, so z.B. „Jeden Morgen geht die Sonne auf“ oder das Weihnachtslied „Wisst ihr noch, wie es geschehen?“ und vor allem sein berühmtestes Gedicht „Wann wir schreiten Seit‘ an Seit'“, nach wie vor eine Hymne der Sozialdemokraten.
Hermann Claudius ist der Urenkel des Dichters Matthias Claudius (1746 – 1815), welcher als Redakteur und Herausgeber der volkerzieherischen Zeitschrift „Wandsbecker Bothe“ als aufgeklärter Christ und Naturverehrer seine Position in der Epoche von Aufklärung und Sturm und Drang findet.
Hermann Claudius hat sich als Christ und durch seine heimatverbundene Naturlyrik bewusst in die Tradition seines Urahns gestellt und sich auch um den Erhalt der Dichtung des Matthias Claudius bemüht, z.B. mit einer Anthologie 1948, „Der Wandsbecker Bote Matthias Claudius“.
Das Erbe des großen Namens verpflichtet Hermann Claudius – und führt mitunter zu Verwechselungen. So offenbart z.B. eine Suchanfrage nach der „Apfelkantate“, dass unbedarfte Internetseiten dieses von Hermann Claudius geschriebene und 1938 veröffentlichte Gedicht meistens Matthias Claudius zuschreiben. Wohlwollend kann man das so deuten, dass man die geistige Nähe zwischen den Verwandten spürt.
Obwohl Hermann nicht die Berühmtheit und Bedeutung seines Urahns Matthias erreicht hat, wurde seine Person und sein Werk beachtet und beurteilt, durchaus kontrovers. Einige Beispiele können davon zeugen:
Bundeskanzler Willy Brandt: „Ihr umfangreiches Werk gehört zum besten literarischen Besitz unseres Volkes".
Glückwunschtelegramm zum 95. Geburtstag des Dichters 1973.
Bertolt Brecht: „Keine andere Zeile eines Liedes begeisterte die Arbeiter um die Jahrhundertwende stärker als die Zeile ‚Mit uns zieht die neue Zeit', die Alten und Jungen marschierten unter ihr, die Ärmsten und Ausgemergelsten und die sich schon etwas von der Zivilisation erkämpft hatten; sie schienen sich alle jung. Unter dem Anstreicher wurde die unerhörte Verführungskraft dieser Worte ebenfalls erprobt, auch er verhieß eine neue Zeit. Die Worte zeigte da ihre Vagheit und Leere. Ihre Unbestimmtheit, die nun von den Verführern der Masse ausgenutzt wurde, hatte lange die Stärke ausgemacht."
Brecht, Bertolt [1939]: Zu „Leben des Galilei“. Anmerkungen. In: Gesammelte Werke. Bd. VII. Schriften I. Zum Theater. Frankfurt a.M. 1967. S. 1103 „Mit uns zieht die neue Zeit“. Von der Begeisterung und Verführungskraft dieser Liedzeile. 1939
Gerhart Hauptmann: „ (...) erhielt ich Ihre freundlichen Zeilen mit dem liebenswerten Gedicht des Claudius-Nachfahren. Es spricht, ebenso wie der beigelegte Brief, von der schlichten Wahrhaftigkeit und Gemütswärme des Verfassers. Soweit sie auf mich zu beziehen ist, berührt sie mich herzlich, und ich bitte Sie, gelegentlich Herrn Claudius davon zu berichten."
in einem Brief an Claudius‘ Freund Ludwig Roselius im April 1932
Werner Bergengruen: „Ein schwächliches, aufgeplustertes, selbstzufriedenes Halbtalentchen, ein Reimklempner von platter Moral."