Eine kleine Episode aus der Serie:
„Segen und Fluch des Internets“
Irgendwann in den dunklen mythischen Anfängen kam es zu einer folgenreichen Tat. Ein Urvater erschuf einen Text und zeigt sein Produkt der ganzen Welt. Irgendwo hatte er einen kleinen Vers gehört, der ihm sehr gefiel, an den er sich aber kaum noch erinnerte. Er hatte noch kurz den Autornamen Claudius wahrgenommen – war das nicht der mit dem aufgegangenen Mond? Er rekonstruierte den kurzen Text aus dem Gedächtnis und meinte ihn sogar schöner zu gestalten, als er die Worte ursprünglich vernahm. Er war nun sehr zufrieden mit seinem Produkt:
Und am Ende meiner Reise
hält der Ewige die Hände
und er winkt und lächelt leise –
und die Reise ist zu Ende.
(Matthias Claudius)
Ist das nicht ein schöner und tröstender Vers für alle Menschen, die um einen Verstorbenen trauern?
Es kam, wie es kommen musste. Ein anderer Freund des Internets liest die Zeilen. Auch ihm gefallen sie, und er stellt sie auf seine Seite. Das wiederum lesen ganz viele andere und machen es ihm nach. Einer schreibt vom anderen ab, der Text verbreitet sich wie eine neue Corona-Welle. Selbst eine etwas sorgfältigere Nachfrage lässt sich von der Mehrheit überzeugen. Die Fülle der Einträge auf den Seiten zahlreicher Beerdigungsinstitute und Listen für Trauersprüche lassen jeden Skeptiker verstummen: Dann muss es wohl stimmen.
Segen und Fluch des Internets: Ein Segen, dass man schnell einen schönen Spruch für die Todesanzeige findet, doch verflucht sei, dass man einem Fake aufsitzt. Die Verse sind nicht korrekt zitiert und stammen auch nicht von Matthias Claudius, sondern von dessen Urenkel Hermann Claudius.
Nur so ist es richtig:
Und am Abend meiner Reise
hebt der Ewige seine Hände.
Und er winkt und lächelt leise.
Und die Reise ist zu Ende.
Zugegeben, die Wahrheit ist nicht leicht zu überprüfen, denn die Strophe findet sich nicht in einem Gedichtband von Hermann Claudius, sondern in einer etwas abseitigen Veröffentlichung (Der Wagen, Ein Lübeckisches Jahrbuch 1952-1953. S. 163) als dritte Strophe des Gedichts Mit siebenzig Jahren.
Einmal infiziert, wird man eine Internet-Täuschung nie mehr los. Das Internet beharrt auf einer einmal gesetzten, wenn auch falsch konstruierten Wahrheit. Doch selbst wenn es ein nahezu aussichtsloser Kampf ist, man muss ihn bestreiten!
Man muss Matthias Claudius zu seinem Recht verhelfen, nicht mit einem Text identifiziert zu werden, der nicht aus seiner Feder stammt. Man muss Hermann Claudius zu seinem Recht verhelfen, richtig zitiert zu werden und als Dichter des Textes benannt zu werden. Und man muss auch an die vielen Toten denken, die mit einem falschen Zitat ihre Reise in die Ewigkeit antreten, mit einem Fake diese falsche Welt verlassen. Das hat niemand verdient.
Das ist ein Faksimile der Originalveröffentlichung: